
readTicker (2.4): Spurensuche, Methoden und Gedanken
Gelesen wird Empfehlungen zum Umgang mit menschlichen Überresten in Museen und Sammlungen Hg.. Deutscher Museumsbund e.V (2013)
Es ist ein eigenartiges Gefühl vor dem Skelett eines Menschen zu stehen. Einerseits ist der Gedanke so abstrakt, dass einem die Tatsache eines menschlichen Überrestes schlichtweg nicht in den Kopf will. Andererseits weiß man sehr wohl, womit man es zu tun hat. Zumindest mir erging es so, als ich vor einigen Jahren einen Paläopathologiekursus an der Universität belegt und die Knochen eines Mannes aus dem Mittelalter vor mir auf dem Tisch ausgebreitet hatte.
Ich denke oft an diese Tage zurück, in denen mir dieser Unbekannte stets vertrauter wurde, obwohl er nur stillschweigend vor mir lag und ich lernte, ihm seine Geheimnisse zu entlocken. Bedingt durch diesen readTicker denke ich noch öfter an ihn. Besonders an sein Dasein in einem braunen Pappkarton, in den er gelangte, weil der Friedhof auf dem er einst bestattet worden war einem modernen Gebäude weichen musste.

Wenn das Gefühl von richtig und falsch nahe beieinanderliegt
Ob er diesem Schicksal zugestimmt hätte?
Diese Frage wird ihm niemand mehr stellen können. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass er schockiert sein würde, wenn er wüsste, dass er und all die anderen Bestatteten ihre letzte Ruhe nicht auf ewig auf ihrem Friedhof gefunden haben.
Gleichzeitig stellt sich mir jedoch die Frage, was die Alternative gewesen wäre? Denn bleiben, das hätte er nicht können. Ein ungeduldiger Bauherr hätte seine Ruhe so oder so gestört. Vielleicht ist das Schicksal als Lehrobjekt also doch das geringere Übel? Darüber lässt sich mit Sicherheit streiten. Ich für meinen Teil habe meinen Frieden mit ihm gemacht und ich bin ihm – nach anfänglichen Berührungsängsten und Gewissensbissen – unendlich dankbar für alles, was er mit ganz ohne Worte erzählte.
Wenn ein Skelett zu sprechen beginnt
Es war die Geschichte eines Mannes, der während seines etwa 40 Jahre langen Lebens hart gearbeitet und viele Schmerzen erlitten hatte. Davon zeugten die Verschleißspuren an seinen Knochen, aber auch die Karies, die sich in seinen rechten Backenzahn gefressen und der ungewöhnlich dicke Oberschenkelknochen, auf dem sich eine Schwulst gebildet hatte. Obgleich es ein gutartiger Tumor war, so wird im das Laufen schwergefallen sein. Ich stellte mir den Gang dieses beachtlich großen Mannes gekrümmt und humpelnd vor. Am schlimmsten müssen für ihn aber die Zahnschmerzen gewesen sein.
Nur, weil man etwas nicht sieht, bedeutet es nicht, dass es nicht vorhanden ist
All jene Informationen, die ich damals erhielt, stammten von den sogenannten non-invasiven Methoden. Also jenen, die dem menschlichen Überrest keinen Schaden zufügen. Hierzu gehören beispielsweise auch jegliche 3D-Daten, die durch Computertomografie oder ähnliche Verfahren gesammelt werden können. Für eine lange Zeit waren diese Untersuchungen das einzige Analysewerkzeug. Doch das hat sich mittlerweile geändert. Und so gibt es heute eine Vielzahl an chemischen und naturwissenschaftlichen Methoden, die den Wissenschaftlern Antworten auf Fragen geben, welche sie vor knapp 20 Jahren nicht einmal zu stellen träumten.
Das einzige Problem dabei ist, dass für diese Methoden eine Probenentnahme, also eine Beschädigung des menschlichen Überrests notwendig ist. Und auch, wenn das meist nur wenige Milligram bedeutet, ist es doch ein unwiederbringlicher Verlust und Eingriff. Deshalb muss bei diesen Individuen ein Unrechtskontext im Vorfeld gänzlich ausgeschlossen werden.

Jüngste Forschungsergebnisse haben gezeigt, wie viele Informationen sich aus Knochen, Haaren und Zähnen eines Individuums gewinnen lassen. Dazu zählen neben den Essgewohnheiten beispielsweise auch der Herkunftsort, die Reiseaktivität und der Gesundheitszustand.
Für mich zählt dieser Bereich der Forschung zu den faszinierendsten und ethisch problematischsten zugleich.
Wie seht ihr das?
Die invasiven Methoden im Überblick
Die non-invasiven Methoden im Überblick
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